Herzlichen Glückwunsch, Grundgesetz!

Am Donnerstag feiern wir 75. Geburtstag. Allerdings ist das Geburtagskind nicht eine in Ehren ergraute Persönlichkeit, sondern das Grundgesetz. Gefeiert wird in Berlin mit einem Staatsakt und einem großen Bürgerfest, in Niedersachsen mit vielen großen und kleinen Veranstaltungen im ganzen Land und das bis in den Sommer hinein.

Ich finde, das Grundgesetz hat diesen großen Bahnhof sehr verdient. Man muss sich einmal klarmachen, unter welchen Bedingungen es einmal entstanden ist. Deutschland hatte den von ihm selbst begonnenen II. Weltkrieg verloren, im ganzen Land herrschte Chaos und Zerstörung – viele Städte sahen so aus, wie heute die Bilder aus ukrainischen Städten. Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen, vor allem aus den deutschen Ostgebieten, mussten aufgenommen werden, allein in Niedersachsen machten sie damals mehr als ein Viertel der Bevölkerung aus. Das ist für uns heute kaum noch vorstellbar.

Und zugleich war Deutschland damals “besudelt unter den Völkern”, wie Bertold Brecht Jahre davor in seinem berühmten Gedicht “Deutschland, bleiche Mutter” geahnt hatte. Von Deutschen und in deutschem Namen waren unfassbare Verbrechen begangen worden, vor allem eine grausame Ausrottungspolitik gegenüber Juden, die geradezu mit industrieller Perfektion betrieben wurde. Das war der absolute Tiefpunkt der deutschen Geschichte.

Von diesem Tiefpunkt aus begann mit dem Grundgesetz ein neues Kapitel dieser Geschichte. Demokratie statt Diktatur, Rechtsstaat statt Willkür, Grundrechte statt Terror – das Grundgesetz sollte die richtigen Schlussfolgerungen aus dem Debakel der NS-Zeit ziehen. Und was für ein Erfolg ist daraus geworden?! Frieden, persönliche und politische Freiheit, ein in großen Teilen der Welt kaum vorstellbarer Wohlstand und inzwischen ist Deutschland übrigens auch wieder ein sehr geachteter Teil der Völkergemeinschaft. Das ist wohl einen herzlichen Glückwunsch zum 75. Geburtag wert!

Aber es gibt natürlich auch viel Beunruhigendes. Weltweit erleben wir derzeit geradezu eine Schwemme von Autokratien, internationale Krisen und große Hausaufgaben im eigenen Land lassen Sorgen und Pessimismus aufkommen. Was kann da eine Verfassung leisten? Sie kann auch für solche Herausforderungen den richtigen Rahmen anbieten, in dem dann Politik und Gesellschaft die richtigen Antworten entwickeln müssen. Das Grundgesetz, davon bin ich überzeugt, ist ein gutes Fundament, um auch die aktuellen und zukünftigen Krisen zu bewältigen.

Eigentlich fällt mir nur ein Bereich in unserem Grundgesetz ein, in dem eine Korrektur fällig ist: Die erst vor einigen Jahren eingefügte Schuldenbremse muss dringend reformiert werden! Gerade in den nächsten 10 Jahren stehen große Aufgaben an, von der Sicherheit über bessere Bildung bis zum Klimaschutz. Für all das brauchen wir einen aktiven Staat, der in die Zukunft investiert und sie damit sichert.

Und was sollten wir dem Grundgesetz zum Jubiläum schenken? Am besten unser Engagement für die Gesellschaft und die Demokratie. Denn eine Demokratie braucht vor allem eines – Demokratinnen und Demokraten, die sich zeigen und einstehen für die Demokratie.

Insofern waren die großen Demonstrationen am Jahresanfang schon so etwas wie ein vorgezogenes Geburtagsgeschenk für das Grundgesetz. Aber von einem solchen Geschenk kann man gar nicht genug haben. Insofern freue ich mich besonders über engagierte Schülerinnen und Schüler, die in Hannover am Mittag des 23. Mai einen großen Sternmarsch planen, der am Opernplatz enden soll. Herzlichen Dank für euer Engagement!

Das Grundgesetz gehört zum Besten, was wir in Deutschland haben – davon bin ich überzeugt. Sorgen wir dafür, dass noch sehr, sehr lange das Fundament unserer Gesellschaft bleibt.

Ich wünsche Euch eine gute Woche.